Corresponding With

Das Kapitel Corresponding With nimmt das Bauhausmanifest, das Walter Gropius 1919 veröffentlichte, zum Anlass, um die Bauhauslehre in den Kontext von Kunsthochschulen in Indien und Japan zu stellen. Diese wurden ebenfalls in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf eine notwendige Modernisierung der Lebensverhältnisse und als Kritik an der bestehenden nationalen Kunst- und Gestaltungslehre gegründet. In seinem Manifest forderte Gropius, dass es künftig „keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Künstlern und den Handwerkern“ mehr geben solle. Das Manifest war ein Kind seiner Zeit. Es ging aus einer radikalen Kulturbewegung hervor, die unter die überkommene akademische Kunsterziehung einen Schlussstrich ziehen wollte und im gesellschaftlichen und materiellen Wert der Handarbeit eine Möglichkeit sah, die Entfremdung und Zerrüttung durch den Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Im Bauhaus vereinigten sich Ideen der internationalen Moderne mit einer radikalen Bildungsreform. Es schuf ein neues Verhältnis zwischen angewandter und freier Kunst, zwischen Hand- und Kopfarbeit. Als pädagogisches Experiment war es eine Ausnahmeerscheinung, da es verschiedenste Ideen und praktische Ansätze der Moderne in einem neuartigen Lehrplan vereinte. Im Wesentlichen ging es darum, den Stellenwert von Kunst und Gestaltung beim Aufbau einer sozialistischen, demokratischen Gesellschaft neu zu bestimmen.

Das Bauhaus nahm im April 1919 seine Arbeit auf. Im selben Jahr eröffnete der indische Dichter Rabindranath Tagore die Kunstschule Kala Bhavan in Santiniketan auf einem Stück Land etwa 150 Kilometer nördlich von Kalkutta (heute Kolkata) inmitten einer bestehenden Lebensgemeinschaft mit utopischen Zielen. Wie das Bauhaus in seinen Anfängen suchte und fand auch die Kala Bhavan eine Sprache der Moderne. Sie bezog darin aber zugleich den Reichtum indischer Kunstproduktion wie auch die britische Arts-and-Crafts-Bewegung ein. 1922 wandte sich die österreichische Kunsthistorikerin Stella Kramrisch, die zu dieser Zeit an der Kala Bhavan unterrichtete, an Johannes Itten mit dem Vorschlag einer gemeinsamen Bauhausausstellung in Kalkutta. Der Briefwechsel führte zur ersten Ausstellung des Bauhauses außerhalb Deutschlands in der Indian Society of Oriental Art in Kalkutta noch im Dezember desselben Jahres.

Ein anderes Bildungsexperiment, in dem das Bauhaus eine Rolle spielte, war das von Renshichirō Kawakita begründete Seikatsu Kōsei Kenkyusho (Institut für Lebensgestaltung), später umbenannt in Shin Kenchiku Kōgei Gakuin (Schule für neue Architektur und Gestaltung) in Tokio. Wie das Bauhaus in Weimar kombinierte die Schule in Tokio modernes Handwerk und industrielle Produktionsweisen – nun aber verbunden mit japanischer Ästhetik. Kawakita veröffentlichte (gemeinsam mit Katsuo Takei) im Jahr 1934 das Kōsei Kyōiku Taikei (Handbuch der Gestaltungslehre), das wie die Schule selbst die Leitgedanken des Bauhauses zu einer modernen pädagogischen Theorie nach japanischen Vorstellungen weiterentwickelte.

Anstatt die Beziehungen der Schulen von der Chronologie eines Bauhauseinflusses her zu denken, betrachtet Corresponding With diese eher als ein Geflecht von Länder übergreifenden Austauschbeziehungen, Referenzen und notwendigen Lehrkonzepten, die auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihren Parallelentwicklungen und Ähnlichkeiten wahrgenommen wurden. Zu sehen sind selten gezeigte offizielle und persönliche Dokumente zu Lehrmethoden und Werkstätten-Einrichtungen, Formsprachen und Materialkulturen, Inhalte und Ergebnisse der Arbeiten und Alltagsgegenstände, die an den jeweiligen Institutionen entstanden. Die drei Kunstschulen verband die internationale Bewegung kunstpädagogischer Erneuerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und eine kritische Haltung zur Kunsterziehung der europäischen Kunstakademien wie auch der Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft jenseits eines erstarkenden Nationalismus.

Corresponding With wurde 2018 vom National Museum of Modern Art (Kyoto) und dem Haus der Kulturen der Welt (Berlin) realisiert, in Zusammenarbeit mit Helena Čapková (Tokio/Prag), Anshuman Dasgupta (Santiniketan), Fabienne Eggelhöfer (Bern), Luca Frei (Malmö), Anja Guttenberg (Berlin), Yuko Ikeda (Tokio), Partha Mitter (Oxford), Jin Motohashi (Kyoto), The Otolith Group (London) und Hiromitsu Umemiya (Kobe). Der Künstler Luca Frei entwickelte für das Kapitel eine neue skulpturale Arbeit und wurde für die Gesamtraumgestaltung beauftragt.

Lyonel Feininger, Kathedrale [Cathedral], 1919, Cover and one page of the manifesto
and programme of the Bauhaus, April 1919, 32.1 x 19.4 cm, Woodblock print
Zum Seitenanfang